Ein neues Buch liegt in den Buchhandlungen auf. Es setzt sich mit einem der großen Proponenten des Roten Wien auseinander, dem Wiener Stadtrat für Wohlfahrts- und Gesundheitswesen Julius Tandler, und trägt den bezeichnenden Titel „Julius Tandler. Zwischen Humanismus und Eugenik“. Ab 1920 schuf Tandler für die Wiener Bevölkerung eine medizinische Grundversorgung und Betreuung, die wegweisend war. Als Arzt wusste er genau wo anzusetzen war, um etwa die Säuglingssterblichkeit zu verringern oder Krankheiten bei Jung und Alt einzudämmen. Diese Leistungen kann man gar nicht hoch genug schätzen.
Aber wo viel Licht ist, da ist oft auch Schatten. Tandlers Denkansätze zur sogenannten Kondition – das Leben von Eltern in schlechtem Milieu präge den Körper der Kinder in seiner Gesamtheit unabänderlich – klingen aufs Erste nur skurril. Antisemiten gefiel so eine Theorie allerdings sehr. Andere seiner Überlegungen – gerne auch im Gemeinderat vorgetragen – die von ihm mit den Begriffen der Minderwertigen oder der Schwachsinnigen und Idioten, die nur Kosten verursachen würden, untermauert wurden, lassen den heutigen Leser schwer irritiert zurück.
Tempi passati, könnte man dazu sagen und sich wichtigeren Problemen zuwenden. Das fällt allerdings nicht gar so leicht, wenn man sich überlegt, mit welcher Hartnäckigkeit vom heutigen Roten Wien beispielsweise daran gearbeitet wurde, den Dr.-Karl-Lueger-Ring umzubenennen. Über Lueger muss man nicht viel sagen und schreiben. Er setzte kommunale Großprojekte um, ließ Sozialeinrichtungen bauen und modernisierte Wien. Dabei bediente er des sich seiner Zeit eigenen unappetitlichen Antisemitismus, der sein Wirken großflächig und zu Recht überschattet.
Bei Tandler lässt man offensichtlich durchgehen, was bei anderen nicht gelten soll. Als Kind seiner Zeit hätte er auch in der Sprache seiner Zeit argumentiert. So lautet die Entschuldigung. Dass Lueger auch mit den Argumenten seiner Zeit auf den Plan trat, wird gerne ausgeblendet. Denn es sind ja ideologische Auseinandersetzungen zu führen. Sozialdemokratisch immer gut, konservativ immer schlecht! Zumindest in Wien.
Tandlers Weltanschauung ist nunmehr auch wissenschaftlich offenkundig gemacht. Wenn wir jedes Verhalten von historischen Politikern ausschließlich von der Warte des Heute beurteilen – wäre es dann nicht wieder an der Zeit für ein paar Straßenumbenennungen?
Autor:
Dr. Christian Lang